Maik Schlüter

Neufassung und Verweigerung

Erinnerungen werden oft mit verblassenden Fotografien verglichen. Ein Vergleich, der ungenau ist. Erinnerungen sind das Ergebnis eines dynamischen und veränderlichen Vorgangs und verlaufen nicht wie ein chemischer Verfallsprozess. Sie sind wandelbar und interpretierbar, ihre Intensität ändert sich, und ihre Inhalte treten je nach Standpunkt mal deutlicher, mal weniger deutlich hervor. Die zeitliche Distanz zum Geschehen ist dabei genauso relevant wie die gegenwärtige emotionale und intellektuelle Verfasstheit. Immer werden bestimmte Aspekte verdrängt, vergessen, betont, akzentuiert oder erfunden. Falsch Erinnertes wird, je häufiger es als vermeintliche Wahrheit aus dem Gedächtnis aufgerufen wurde, irgendwann zur Gewissheit. Untrennbar mischen sich Fakten und Fiktionen.

Fragmente des Erlebten werden verzerrt, verdeckt oder neu zusammengesetzt. Alles ist instabil und variabel. Meist besitzen Erinnerungen einen authentischen Kern, der mit dem kollektiv oder individuell Erlebten explizit verbunden ist. Aber auch projektive Erinnerungen gibt es: Geschehnisse werden in das eigene Gedächtnis integriert, obwohl es zu ihnen keinen realen Bezug gibt. Aus unterschiedlichen Notwendigkeiten werden Inhalte verändert: Nostalgie, Wunschdenken, Sehnsüchte, Täuschungen spielen dabei eine Rolle oder lebensnotwendige Verdrängungsmechanismen und Umdeutungen von Geschehnissen. Erinnerung ist ein aktiver Prozess der Ausgestaltung, Manipulation und Suggestion. Die Identität ist wankelmütig und immer wieder neu zu begreifen und zu verankern. Aber die Konstruktion der sich immer wieder neu bildenden Erinnerungsschicht und Identitätsmanifestation ist relativ. Denn wir kennen auch die unveränderlichen Anteile der Persönlichkeit, die Bilder im Inneren des Kopfes, die einen nicht loslassen, die immer gleichen Träume, die uns heimsuchen oder die immer gleichen Fallen der emotionalen Verwirrung, in die wir hineingeraten. Aktives Ausgestalten von Wahrheit und automatisches Reproduzieren von Persönlichkeitsmustern gehen Hand in Hand. Leben, das sind Erinnerungen, Geschichten, familiäre Bindungen, Heimatdörfer und Schulabschlüsse, Kinder, Partner, Sehnsüchte und Ängste. Jedes Wort, das gesprochen wird, ist auch ein Stück Selbstoffenbarung. Alles ist tendenziös und absichtsvoll. Selbst wenn nichts gesagt werden soll. Wie wird das Gesagte aufgenommen? So wandelbar und ungenau die Bedeutung der eigenen Bilder und Worte ist, so indifferent ist das Verhältnis von Sender und Empfänger. Die Trennschärfe der Äußerungen hilft ein gegenseitiges Verstehen zu befördern. Aber Sprache ist voller Verweise und Doppeldeutigkeiten, ein phonetisches und etymologisches Rätsel. Das Gleiche gilt für Bilder. Die Form korrumpiert den Inhalt. Der Inhalt kann vielgestaltig, vage, diffus oder widersprüchlich und der Adressat möglicherweise unbekannt sein. Denn wer zwingt uns, die inhaltlichen Prämissen so zu formulieren, dass Gegenstände, Personen, Räume, Abläufe, Daten oder Zeiten wie im Polizeiarchiv schlüssig aufbereitet sind?

Alles läuft darauf hinaus, die fein säuberlich gezogenen Trennlinien einzelner Kategorien aufzuweichen und den Wahn der Eindeutigkeit zu zerstören. Was poetische Gewissheit ist, wird vielleicht irgendwann zur wissenschaftlichen Wahrheit. Aufklärung und Abgrund, Barbarisches und Fortschritt, Solidarität und Egoismus, Fiktion und Faktizität. Alles ist ineinander verschoben. Dennoch wird ständig gesucht nach dem archimedischen Punkt des Gemeinsinns, der die gesellschaftliche Ordnung: markiert und das erträgliche Mittelmaß benennt. Wir müssen aber akzeptieren, dass Massenmörder auch charmant sein können, Tierquäler zärtliche Momente kennen, Staatsbeamte Vertrauen missbrauchen und trotzdem richtige Entscheidungen treffen, Medikamente Nebenwirkungen haben und Moral nicht durch amoralisches Verhalten zerstört wird. Wirklichkeit ist interpretationsabhängig. Jedes Wort und jeder Blick driftet in verschiedene Richtungen. Eine verbindliche Wahrheit kann es nicht geben. Nur verhandelbare Abkommen. Trotz aller Missverständnisse. Der Konsens wird notfalls erpresst. Dadurch existiert eine teilbare Wirklichkeit.

Was bleibt, sind bewegliche Ziele, Chimären, Schatten. Farbkleckse. Reste der Authentizität. Reale Lügen. Sexuelle Verwirrungen. Räume. Gefängnisse. Träume. Masken. Bilder. Nichts, was scheinbar unverrückbar ist, muss auf der Fläche eines Bildes so bleiben. Zeitliche und räumliche Kontinuitäten können gesprengt werden; Erinnerungen werden lebendig, Rollen aufgegeben, Fesseln abgestreift, Verbotenes ausgesprochen, Tabus lustvoll kultiviert. Auch Phantastisches greift Raum: Tiere werden zu Menschen, Menschen zu Kreaturen, die beides sind, die Wände sprechen plötzlich, Schatten formen andere Konturen als die Objekte ihres Ursprungs, das Licht wird zu greifbarer Materie, oder der Himmel ist voll von giftiger Farbe. Was war, kann neu erfunden
werden. Was ist, kann verdrängt werden. Was kommt, kann immer neu geträumt werden. Kunst heißt Verweigerung und Neufassung. Dennoch ist sie faktisch. Deswegen ist es richtig, dass sich die Wände auftun und dass Geister und Zeichen erscheinen, dass Affenwesen ihre riesigen Pranken auf ein Mädchengesicht drücken oder die Luft einfach Feuer fängt, dass unscheinbare Frauen zur Domina werden, dass Quecksilber vom Himmel tropft oder Tauben aus Händen wachsen und erschlagen werden. Erinnerungen werden so zur Gegenwart, Porträts zu Zerrformen der Naivität, glückliche Konstellationen zu ungünstigen Anlässen, Ikonen zu Dämonen, Landschaften zu Farbflächen oder Raum zu einem abstrakten Muster.

Exkurs: Bilder

Ein Griff in den Schritt. Wie ungehörig, wie aufreizend, wie plump. Verfrüht. Im Ballkleid. Ganz alleine. Der soziale Status löst sich binnen von Sekunden auf. Die Sicherheit ist dahin. Der feierliche Rahmen, die Nacktheit verborgen hinter Kleid und Anzug, Gesten und Worte, Hierarchien und Riten. Das Rollenspiel ist absichtsvoll. Der Instinkt lässt sich nicht tilgen. Auf Sommerwegen, am Rande eines Feldes, im Park, auf der Wiese. Für einen Moment unbeobachtet, reißt die Wirklichkeit in Stücke. Aus den Spalten kriechen Geister. Ein Schwindel erfasst Dinge und Menschen. Gedanken schrauben sich in die Höhe, werden greifbar, sichtbar, hörbar. Bin ich das noch? Ich werfe einen Schatten, der viel zu klein ist, die Riesen in mir zertreten mich.

Wegmarken verschmieren. Raumgrenzen haben kein Maß mehr. Die dritte Dimension wird zur zweiten. Schlammwie in Industriegebieten. Mauern mit Fenstern. Spiegel. Der Himmel ist fahl, kein Leuchten, kein Horizont. Die Sonne verschwunden. Die Flucht ungewiss und erzwungen. Stolpern, rutschen, fallen. Hier wohnt niemand. Die Zeit ist zu Wasser geworden. Der Weg schwimmt.

Die Erinnerung ist eine Fläche. Der Weg ein Sprungbett in eine Zeit, die vorüber ist. Ein Negativ. Invertierend. Ich sehe Umrisse, keine Personen. Die Geräusche sind verhallt. Die Kindheit vorbei. Der See ist zu viel Romantik. Was bleibt, ist ein künstlicher Geschmack. Eis, das niemals friert. 
E 112, E 330, E 229. Zucker. Zahnfäule. Karies. Das Glück lässt sich nicht beschreiben. Eine Slush-Puppy-Kindheit. Giftig und süß.

Ich träumte von einem Affenwesen. Von Science-Fiction und Untergang: Planet der Affen. Affenfleisch und Masken. Eine Frau mit Maske. Ein starrer Blick. Die Fixierung auf mein Geschlecht. Ein Echo der Evolution. Mode wird zum Menetekel. Sex zum Instrument der Entfremdung. Der Mensch als Affe. Die Spezies überholt sich selbst. Transformation. Das Affenwesen verfolgt mich. Ein Affenmann, ein Hanuman, ein Tier aus der Wand. Die Maske schützt mich. Dann wache ich auf.

Maik Schlüter, Kunsthistoriker

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